Es bleibt immer die Frage, inwieweit man in einem Bandtagebuch auch private Details einfließen lassen soll. Ab wann entfernt es sich zu sehr vom Bandkosmos, ab wann verrät man zu viel von sich, ab wann wird es öde für die LeserInnen.
Tatsache ist, dass wir nun seit über 22 Jahren Tourtagebuch führen und diesbezüglich immer noch uneins durch die Wortwelt taumeln. Vielleicht verraten wir manchmal tatsächlich zu viel von uns, andererseits soll ein Tagebuch auch die Zeit einfrieren, und was wäre das für ein geschmackloser Eiswürfel, wenn wir ausschließlich businessbezogene Redundanz reinpacken würden?
Jedenfalls: Gestern wurde mein Onkel Walter beerdigt. Er war einer der herzlichsten und liebevollsten Menschen, die ich kannte und kenne, und es gab, glaube ich, niemanden, der sich in seiner Nähe nicht wohlgefühlt hätte. Er fehlt sehr, mir, meiner Familie, der Welt, und das wird sich auch nicht mehr ändern. In unserem Umfeld war er zudem mit seiner immensen Plattensammlung im Grunde der Vorgänger von Spotify, allerdings mit Seele, er hatte alles da, empfahl und verknüpfte und mixte Kassetten, die kein Radiosender zusammengestellt bekommen hätte.
Ich bin darum heute nicht besonders glücksbeseelt, als ich mich um sechs Uhr früh auf den Weg zum Ruhrpott Rodeo mache, denn Musik zu hören, fällt mir derzeit nicht leicht.
Wir Monsters kommen heute wieder aus allen Richtungen angereist, ich treffe Börnski und Pensen am Bahnhof Feldhausen, wo uns Rodeo-Jan herzlich empfängt und zum Festival shuttlet. Dort treffen wir die restlichen Monsters samt Kumpel Patte, aber auch viele andere liebe Menschen, die durch ihre Art unsere Gemüter wärmen. Der Butterwegge himself, Mirko von Sondaschule, Butterweggebassistin Dani, natürlich Rodeochef Alex, und wie bescheuert muss man eigentlich sein, eine Aufzählung zu beginnen, wo man doch genau weiß, dass man jetzt tausend tolle Leute zu nennen vergisst? Eben, mea culpa, fühlt euch bitte alle geherzt. Das gesamte Festivalteam ist quasi Familie und supernett und im Backstage herrscht harmonisch sonntägliches Gewusel. Wir frühstücken, laufen hierhin und dorthin, trinken einen Adrenalinaufputschsekt und bangen alle etwas ob der grauen Wolkendecke. Natürlich drehen sich viele Unterhaltungen um den gestrigen Auftritt der Sex Pistols, der anscheinend die gesamte Bandbreite von Ekstase bis zu Landflucht abdeckte. Sie polarisieren also immer noch, wenn auch anders. Ich bin aber froh, zumindest mit ihnen mal auf einem Plakat gestanden zu haben und werde auch künftig damit anzugeben versuchen, denn ich bin eben ein kleiner Windbeutel.
Zum Soundcheck sind wir alle etwas nervös, denn es beginnt bereits zu nieseln, außerdem kriegt Fred plötzlich unvermittelt Nasenbluten, und wir sind alle etwas nervositätszickig zueinander. Mag sein, das der letzte Gig, der eher mies lief, uns auch noch in den Knochen steckt. Jedenfalls wollen wir unbedingt abliefern.
Aber sehr cool ist die Technikcrew um Niklas (ich hoffe, der Name stimmt, sonst bitte Bescheid geben, ja?), die uns wirklich superschnell und souverän durch den Soundcheck manövrieren, und der Platz füllt sich zudem auch mit freundlichem Publikum, während auf der Bühne gegenüber The Red Flags beeindruckend abreißen. Wir holen noch schnell Getränke, verpropfen Freds Nase, monstern uns ein, dann geht’s um Punkt 14 Uhr los.
Es wird wunderschön. Ein knackiges, uns selbst mitreißendes Konzert vor einer beeindruckenden Kulisse. So viele Menschen, die dem Regen trotzen, der inzwischen ziemlich aggro vom Himmel prasselt, und tanzen, singen, mit uns lachen. Das schraubt auch unseren Adrenalinpegel in die Höhe. Ich versinge mich dauernd und quassele was von meiner Messdienerzeit, mit der ich (vergebens) Gott zu bestechen versuche, sie zu Sonnenschein zu überreden, Börnski entdeckt urplötzlich Publikumsinteraktionsspiele und kann gar nicht mehr aufhören, Echos einzufordern, aber das Ruhrpott-Rodeo macht jeden Quatsch eindrucksvoll mit, und die Kollegen, Pensen, Rüdi, Fred und Burger halten immerhin die spielerische Qualität, weshalb der Auftritt auch nicht zu sehr ins Alberne abdriftet. Es wird viel gecrowdsurft, was wir ein bisschen in unsere Songs einbauen, um sie so etwas sicherer bis zur Absperrung zu begleiten. Wir verteilen Getränke ans Publikum, hüpfen umher und landen mit dem letzten Ton eine zeitliche Punktlandung. Wie gut das getan hat. Vielen, vielen Dank, liebes Ruhrpott-Rodeo!
Nach der Show suche ich noch alte Freunde, die ich in der Menge ausgemacht habe, verpasse aber leider BulliUlli und auch Kolja und Hendrik, mit denen ich die Schul-Punkband „Fehlverhalten“ hatte, die – Funfact- auch Teil meines ersten Romans (Schinken, Eier und die Angst) sind, aber ich treffe immerhin Mörtler von den „No Brakes“ und FreundInnen, sowie „Pinguin Flugschau“- Henrik, mit dem ich noch die ersten Songs von Teenage Bottlerocket genieße, bevor ich dann doch vor dem Regen in den Backstage flüchte, kurz mit Börnski aneinandergerate und mich wieder versöhne. Fred und Burger sind bereits abgefahren, also geselle ich mich auf ein Bier zur Butterweggecouchecke, wo ich mich aus Unsicherheit, weil ich nicht weiß, ob er mich noch wiedererkennt, vor Tex Brasket zum Horst mache und mit Sicherheit auch sonst wieder eher nur Unfug geschwätzt habe, aber irgendwo muss ja jetzt die gestaute Bühneneuphorie hin, und ich bin mir sicher, hier kann das jeder nachvollziehen. Jetzt klingelt aber auch der Wecker für Börnski, Pensen und mich, denn wir werden wieder zum Bahnhof geshuttlet, diesmal von Lukas, der gerne HipHop mag, weshalb ich ihm natürlich Mauli empfehle und hoffe, dass er ihm gefallen wird.
In unserem gemeinsamen Zug bis Essen sitzen wir zusammen mit vielen Moviepark-BesucherInnen, die alle auf einem ganz anderen Film sind, Börnski ist aber auf Konversationskurs, da kommen einige Passagiere gar nicht hinterher, doch er lässt sich mittels Kaltgetränken rasch beruhigen und wir vertiefen uns in eine Unterhaltung familiärer Details. Diese spare ich zum Beispiel aber jetzt aus und verlasse am Essener HBF die beiden Herren, denn wir reisen in unterschiedliche Richtungen. Etwas verunglückt ist unser Abschied, denn wir missverstehen uns logistisch und winken uns nur noch etwas konsterniert von der Treppe aus zu, bevor wir in den strömenden Fluss der suchenden Reisenden abtauchen.
Ich weiß, dieser Bericht ist eher fieberhaft, aber so war auch der Tag, ein rasanter MTV-Clip voller Eindrücke, ohne stringentes Handlungsgerüst, auch hab ich viel gar nicht erwähnt, den immer ultraherzlichen Ingo Donot zum Beispiel, dem ich kurz vor Abfahrt nur noch schnell meine aktuelle Solo-CD in die Hand drücke, es ist schon peinlich, ich weiß, aber er bleibt auch diesmal so freundlich, er und Walter, die beiden als Team hätten die Welt sicher zu einem Harmoniepool zusammenlächeln können, all die netten Smalltalks mit den Betontodherren, der Band Shandon, mit denen wir unseren Container geteilt haben, die super Securitys, Cateringmenschen, HörerInnen, ich verneige im Namen aller Monsters mein Haupt vor euch und hebe meine Becksdose im ICE auf euch. Jede Realität wird einfach besser, wenn man sie im Rodeo reitet. Howdy und Hut ab, wir danken euch sehr.