Es ist grau und verregnet und überhaupt nicht so, wie es sich für Wien gehört. Außerdem gibt’s Autos und keine Fiaker und überhaupt niemand wandelt erhaben im Sonntagstaat, sondern schlendert genauso kartoffelig handybeladen wie wir Deutschen. Ich bin zutiefst empört und fordere meine Klischeevorstellungen zurück. Wir stehen am Club, dürfen aber erst um 12:30 Uhr da rein, jetzt ist es neun Uhr und ich muss aufs Klo, weil meine Organe immer völlig unbeeindruckt von Rockbürokratie ihre eigenen Zeiten und Bedürfnisse haben. Jan und Pensen waren bereits austreten und können darum den Arbeitsmarkt nebenan empfehlen. Ich schätze, es ist das österreichische Äquivalent zum Arbeitsamt, und da muss ich sowieso bald hin, darum gönne ich mir einen kurzen Ersteindruck. Hoffnung verdunstet direkt an der Eingangstür, dafür sind die Toiletten sauber, und für diesmal reicht mir das.
Hernach schreibe ich den gestrigen Tourbericht fertig, dann fällt mir auf, dass ich ohne Jans Internet zu gar nichts fähig bin, und da der, genauso wie Fabi, Fred und Burger, schon in Sachen Sightseeing unterwegs sind, muss die Veröffentlichung etwas warten. Teddypard hat gestern die Nacht halb durchgetanzt, und will meine Koje für sich. Um also nicht gleich wieder in Schlaftran zu verfallen, laufe ich eine Runde und lande beim böhmischen Prater. Die ersten dazugehörigen Gasthäuser sind bereits geöffnet, aber die am Wald gelegene Straße ist menschenleer, die Fahrgeschäfte dämmern noch in trübem Schlafe, und all das in Verbindung mit dem graubewölkten Himmel, schafft eine Atmosphäre, die wirkt, als hätten sich David Lynch, Stephen King und Edgar Reitz zusammengesetzt und LSD geschluckt. Ich bin begeistert und meine Laune hebt sich wie meine gänsegehäuteten Nackenhaare. Eine gute Stunde trabe ich umher, bevor ich wieder am Bus ankomme, wo mir gerade Pensen und Rüdi zwecks Clubbetretung entgegenschreiten. Wir kommen pünktlich und werden vom Szene-Team um Annika und Sascha freundlich empfangen, auch Mark ist bereits da. Das Frühstück ist gerichtet und bietet viele Leckereien, die Dusche hingegen teilt sich den Miniraum mit der Toilette, und wir fragen uns alle, wer auf die Idee kommt, das so ungetrennt zu konzipieren. Egal, Wasser Marsch.
Der Club ist äußerst amtlich und die Lichtanlage könnte Pink Floyd überfordern, beeindruckend, wirklich.
Frühstück, Tee, Busladen, erfahren, dass heute eine eher happige Merchgebühr anfällt, Wien beherrscht die Businesssprache perfekt. Ich hole noch mit Jan rasch zwei Flaschen Sekt im benachbarten Spar, denn wir beherrschen die Poesie der Kribbelgetränke so perfekt wie Wien die Businesssprache.
Der Vorverkauf heute ist eher mau, wobei man auch sagen muss, dass wir erst einmal überhaupt in Wien waren, und das vor mehr als zehn Jahren. Insofern ist der Vorverkauf eigentlich wieder ganz gut, und wer weiß, hätte jemand hier vielleicht sogar neben den rund zwanzig Plakaten anderer Veranstaltungen auch eins von uns aufgehängt, wäre er womöglich ja sogar glatt noch etwas besser gewesen. Es wird jedoch ein Geheimnis bleiben.
Ich probiere mich heute durch diverse Teesorten, finde einen echten Freund in Ingwer/Orange und eine heftige Aufgabe in Fenchel/Anis, darüber informiere ich Jan und Rüdi, die mit Bernd in der Lounge sitzen, und eher gemäßigtes Interesse an Teesortentalk, dafür aber andere Gesprächsangebote haben, die unser Geheimnis bleiben. Dann wird es auch langsam Zeit für den Soundcheck.
Der Soundcheck ist heute besonders gut, weil Jan mich während des gesamten Rangsdorf-Songs von Rüdi massiert, wie der Sound klingt, weiß ich allerdings nicht.
Das Abendessen ist äußerst schmackhaft, es gibt unter anderem gefüllte Auberginen, die uns die Fleischfresser natürlich wegfressen, bevor sie ihre Zähne in ihre Leichen schlagen.
Jetzt aber zum Konzert. Wie gesagt, es ist Mittwoch, wir sind schon ewig nicht mehr in Wien gewesen, wir sind kein Hype.
Aber bei der Party, die heute hier mit knapp hundert Leuten abgeht, bleibt uns die Spucke weg. Vom ersten Ton an bebt die Halle. Die Menschen singen, klatschen, pogen mit, tanzen dr den Raum, hören bei leisen Stellen andächtig zu und werfen Bonbons auf die Bühne. ES wird ein unglaublich liebevoller, schöner Abend, und wir bekommen Kieferschmerzen vor lauter Lächeln. Als Burger zu den Zugaben noch kurzerhand seinen alten Schröders-Hit „Lass uns schmutzig Liebe machen“ auspackt, gibt es kein Halten mehr. Die Audienz feiert ekstatisch mit und uns erschauert vor Freude. Freudestrahlend verabschieden wir uns vor stehenden Ovationen, um kurz darauf am Merchtisch aufzuschlagen und viele schöne Unterhaltungen zu führen. Ich kriege ein Bandquartett der Gruppe „Chevapcici“ geschenkt, worauf ich direkt verspreche, in Wien für Fahrtkosten als Vorprogramm aufzutreten, was ich hiermit nochmal schriftlich bestätige. Auch lerne ich Katharina und Georg kennen, die am böhmischen Prater wohnen und unsere Tourberichte lesen, weshalb sie an dieser Stelle extra gegrüßt werden. Auch das supersympathische Paar, das uns des öfteren mit selbstgebranntem Obstler beschenkt, möge sich bitte virtuell gekost fühlen, denn der Obstler ist exquisit. Wir haben ihn gleich auf der Fahrt getestet.
Apropos Fahrt: Auch heute gibt es keine lange Backstageparty, recht rasch müssen wir einladen, uns von Annika, Lichtmann Bernhard und Co verabschieden, auf baldiges Wiedersehen hoffen und dann auf die Piste. In der Lounge herrscht wuseliges Treiben, an dessen Ende nur noch Rüdi und ich verbleiben, mit Obstler und Musik von der Intelligenzia und Mauli, womöglich eine Spur zu laut, aber Rocktouren sind eben auch keine Butterfahrten.
Wien, du holde Stadt, du warst, bist und bleibst einfach leiwand. Auf bald bitte.